In meinen Coachings begegne ich immer wieder Menschen, die intuitiv spüren, dass sie in ihrem Leben oder im Beruf an einem Punkt der Stagnation angekommen sind. Etwas in ihnen weiß: Es muss sich etwas ändern. Und doch scheint gerade dieser erste Schritt in die Veränderung einer der schwersten zu sein.
Nicht, weil das Ziel unerreichbar wäre. Sondern weil es gar kein klares Ziel gibt.
An genau dieser Stelle erinnere ich mich oft an die Worte von Seneca:
„Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will, für den ist kein Wind der richtige.“
Ohne ein konkretes Bild davon, wo es hingehen soll, bleibt jede Anstrengung orientierungslos. Chancen und Gelegenheiten ziehen vorbei, ungenutzt und oft unbemerkt.
Diese Dynamik betrifft nicht nur einzelne Menschen – sie prägt ganze Gesellschaften. Besonders deutlich zeigt sich das derzeit in Deutschland.
Die kollektive Orientierungslosigkeit – eine Gesellschaft im Wartestand
Deutschland ist ein Land, das wie kaum ein anderes auf den Erfolgen der Vergangenheit ruht. Jahrzehntelang hat die Generation der Nachkriegszeit dieses Land mit Fleiß, Disziplin und einem unermüdlichen Streben nach Sicherheit aufgebaut. Werte wie Ordnung, Planbarkeit und Stabilität bestimmten das gesellschaftliche Leben.
Doch diese Werte, die im industriellen Zeitalter des 20. Jahrhunderts Sinn stifteten, wirken heute wie ein Anker, der den Aufbruch ins Neue verhindert.
Während andere Länder längst eine Kultur des Fortschritts, der Neugier und des Experiments verinnerlicht haben, tut sich Deutschland schwer damit, Visionen zuzulassen. Zukunft wird hierzulande oft in administrativen Begriffen gedacht: als zu planendes Projekt, nicht als kreativer Möglichkeitsraum.
Und genau darin liegt der entscheidende Unterschied:
Andere Gesellschaften experimentieren mutiger, sie scheuen das Risiko nicht, denken groß und sind bereit, Fehler als notwendigen Teil des Wachstums zu akzeptieren. Deutschland hingegen perfektioniert Theorien – und scheitert immer wieder an der praktischen Umsetzung.
Ein aktuelles und bezeichnendes Beispiel:
Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei der durchschnittlichen Internetgeschwindigkeit im Festnetz nur auf Rang 55. Länder wie Singapur, die Vereinigten Arabischen Emirate, Hongkong oder Frankreich führen das Ranking an. Deutschland bleibt weit abgeschlagen – ein Sinnbild für die digitale Rückständigkeit eines Landes, das im Herzen noch immer an der analogen Ordnung festhält.
Foto: Quelle Welt am Sonntag, 18.05.2025
Ein Beispiel aus meiner Coaching-Praxis
Eine Klientin von mir – nennen wir sie Sabine – stand genau an diesem Punkt der inneren Zerrissenheit. Sie war beruflich etabliert, hatte sich über Jahre hinweg eine angesehene Position erarbeitet. Doch tief in sich spürte sie eine wachsende Unzufriedenheit, eine leise, aber immer drängendere Frage: War das wirklich alles?
Der Gedanke an einen beruflichen Neuanfang löste bei ihr Angst und Schuldgefühle aus.
In einer unserer Sitzungen sagte sie zu mir:
„Ich habe so viel investiert, um da zu stehen, wo ich jetzt bin. Wie kann ich das einfach hinter mir lassen?“
Meine Antwort lautete:
Wer sagt denn, dass Sie es hinter sich lassen müssen? Vielleicht nehmen Sie es einfach mit – als wertvolle Erfahrung, die Sie jetzt auf eine neue Ebene führt.
Im Verlauf unseres Gesprächs wurde Sabine klar: Es geht nicht darum, die Vergangenheit abzustreifen wie ein altes Kleid. Die eigene Geschichte lässt sich nicht ausradieren – und das ist auch gar nicht notwendig.
Die entscheidende Frage ist vielmehr:
Trägt man die Vergangenheit als Last – oder nutzt man sie als wertvolle Ressource?
Es geht darum, Erlebtes bewusst zu integrieren, daraus zu lernen und den Teil mitzunehmen, der stärkt – ohne an dem festzuhalten, was beschwert.
Sabine erkannte, dass ihr bisheriger beruflicher Weg kein Umweg war. Im Gegenteil: Er bildete das Fundament, auf dem sie mit einem neuen Bewusstsein mutigere Entscheidungen treffen konnte.
Veränderung bedeutet nicht, sich neu zu erfinden, sondern oft einfach, das eigene Potenzial endlich zu leben.
Es dauerte, aber Sabine wagte den ersten kleinen Schritt. Heute gestaltet sie ihr berufliches Leben nicht nur freier, sondern auch mit einer ganz neuen Leichtigkeit und inneren Klarheit.
Psychologische Tiefe: Warum fällt Veränderung so schwer?
Unser Gehirn ist von Natur aus darauf programmiert, Energie zu sparen. Jede neue Erfahrung, jede Entscheidung und jede Veränderung fordert das Gehirn heraus, neue neuronale Verknüpfungen zu schaffen – und das bedeutet Anstrengung.
Aus evolutionärer Sicht war es überlebenswichtig, bekannte Pfade nicht leichtfertig zu verlassen. Dieses „Sicherheitsprogramm“ ist tief in uns verankert und wirkt auch heute noch – obwohl die meisten realen Bedrohungen längst verschwunden sind.
Doch genau hier kommt die moderne Epigenetik ins Spiel:
Wir wissen heute, dass unsere Gedanken und Überzeugungen tiefgreifende Auswirkungen auf unsere Genaktivität haben. Dauerhafter Stress, negative Denkmuster und die ständige Angst vor Veränderung können Gene aktivieren, die den Körper in einem permanenten Alarmzustand halten.
Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin werden dauerhaft ausgeschüttet. Der Körper bleibt in einer chronischen Kampf- oder Fluchtbereitschaft – ein Zustand, der nicht nur die mentale Gesundheit belastet, sondern auch die körperliche Heilung und Regeneration blockiert.
Die gute Nachricht: Selbst im höheren Alter bleibt das Gehirn formbar. Dieses Phänomen nennen wir Neuroplastizität. Veränderung ist also keine Frage des Alters, sondern eine Frage der bewussten Entscheidung, neue Wege zu gehen – auch wenn sie anfangs ungewohnt und unsicher sind.
Konkrete Handlungsimpulse: Wie Veränderung aktiv gelingen kann
1. Die 72-Stunden-Regel: Entscheiden und Handeln
Wenn ein Entschluss zur Veränderung gefasst wurde, sollten erste konkrete Schritte innerhalb von 72 Stunden folgen. Warum? Nach 72 Stunden sinkt die Wahrscheinlichkeit drastisch, dass aus einer Entscheidung eine Handlung wird.
Es muss kein großer Schritt sein. Oft reicht es, ein erstes Gespräch zu führen, einen Termin zu vereinbaren oder ein neues Buch zu bestellen. Wichtig ist, die Entscheidung mit einer Tat zu verankern.
2. Reflexionsfragen für mehr innere Klarheit
Was würde ich tun, wenn ich sicher wüsste, dass ich nicht scheitern kann?
Welche meiner bisherigen Erfahrungen kann ich heute als Ressource nutzen, statt sie als Last zu empfinden?
Wenn ich in einem Jahr zurückblicke: Welchen kleinen Schritt hätte ich mir heute gewünscht, schon gegangen zu sein?
Diese Fragen öffnen den Blick für Möglichkeiten, die jenseits der bekannten Denkmuster liegen.
3. Positive Routinen etablieren – die Kraft der kleinen Schritte
Das Gehirn liebt Wiederholungen. Veränderung gelingt am besten, wenn sie durch kleine, regelmäßige Handlungen verankert wird.
Beispiele:
Täglich 10 Minuten für das Erlernen einer neuen Fähigkeit.
Wöchentlich feste Zeiten für persönliche Reflexion oder Tagebuchschreiben.
Einmal pro Woche bewusst die Komfortzone verlassen – auch wenn es nur ein neues Gespräch oder ein kleiner Ortswechsel ist.
Der Schlüssel liegt in der Kontinuität, nicht in der Größe der Veränderung.
4. Visualisierung – das Ziel greifbar machen
Das Gehirn unterscheidet nicht zwischen tatsächlich erlebten und intensiv vorgestellten Erfahrungen. Durch klare Visualisierungen des gewünschten Veränderungsziels wird das emotionale Belohnungssystem aktiviert – und der Körper beginnt, die Veränderung positiv zu verknüpfen.
Stellen Sie sich Ihr zukünftiges Selbst lebendig vor:
Wie fühlen Sie sich?
Wie bewegen Sie sich?
Welche Menschen umgeben Sie?
Je konkreter das Bild, desto kraftvoller die Wirkung auf das Unterbewusstsein.
Wie kann es im Leben weitergehen?
Stellen Sie sich vor, Sie stehen am Strand eines weiten, unbekannten Meeres. Das Wasser glitzert in der Sonne, sanfte Wellen rollen ans Ufer und ziehen sich wieder zurück.
Vor diesem endlosen Horizont liegt eine Welt voller Möglichkeiten, deren Gestalt noch im Verborgenen liegt.
Die entscheidende Frage ist nicht, ob die Überfahrt sicher sein wird.
Die eigentliche Frage lautet: Was geschieht, wenn niemand jemals in See sticht?
Man kann stehen bleiben, den Horizont bestaunen und sich in der Sicherheit des Bekannten einrichten. Oder man findet den Mut, die Segel zu setzen.
Vielleicht wird die Reise herausfordernd. Vielleicht wird sie nicht immer bequem. Aber sie wird lebendig sein. Und genau dort, jenseits des Bekannten, wartet oft das Leben, das schon lange gespürt, aber noch nie wirklich gelebt wurde.
Vielleicht beginnt genau dort die Reise, die wahrhaft erfüllt.
Kathrin Woerner
Life & Business Coach
Epigenetik & Healthy Aging Coach